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Aeneas, der Verteidiger von Troja
#3
   

Dardanien lag näher an Assos als jeder andere Staat Kleinasiens, aber ich hatte es absichtlich geschont während unseres neunjährigen Feldzuges, in dem wir die Küste in Schutt und Asche gelegt hatten. Ein Grund dafür war, dass es im Landesinneren lag und eine gemeinsame Grenze mit Troja hatte, ein anderer war etwas subtiler: Die Dardanier sollten sich in Sicherheit wiegen und glauben, dass ihre Entfernung vom Meer sie unangreifbar machte. Im Übrigen traute Dardanien Troja nicht. Solange ich sie in Frieden ließ, blieben König Anchises und sein Sohn Aeneas auf Distanz zu Troja.  

Doch jetzt sollte sich alles ändern. Der Einfall in Dardanien stand kurz bevor. Statt auf die übliche lange Seereise, bereitete ich meine Truppen auf einen mühsamen Marsch vor. Wenn Aeneas überhaupt einen Angriff erwartete, dann rechnete er bestimmt damit, dass wir die Spitze der Halbinsel umsegeln und an der Küste jenseits der Insel Lesbos an Land gehen würden. Von da an war es nur noch ein Fünfzehn-Meilen-Marsch nach Lyrnessos. Ich hingegen plante, von Assos aus landeinwärts durch hundert Meilen Wildnis über die Hänge des Berges Ida hinunter in das fruchtbare Tal zu stoßen, in dem Lyrnessos lag.

Odysseus hatte mir ausgebildete Späher mitgegeben, die unsere Route auskundschafteten. Sie berichteten, dass sie dicht bewaldet war, nur wenig Gehöfte an unserem Weg lagen und die Jahreszeit für die Schäfer schon zu weit fortgeschritten war, um noch auf der Weide zu sein. Pelze und feste Schuhe kamen aus den Vorratslagern, denn der Ida war schon fast zur Hälfte an seinen Flanken mit Schnee bedeckt, und es war möglich, dass wir in einen Schneesturm gerieten. Ich schätzte, dass wir ungefähr vier Meilen am Tag zurücklegen konnten; nach zwanzig Tagen sollten wir unser Ziel erreicht haben. Am fünfzehnten dieser zwanzig Tage sollte Phoinix, so lautete der Befehl, mit seiner Flotte in den verlassenen Hafen von Andramyttios einlaufen, den nächsten Anlegeplatz an der Küste. Mit Widerstand brauchte er nicht zu rechnen, denn ich hatte Andramyttios Anfang des Jahres bis auf seine Grundmauern niedergebrannt – zum zweiten Mal.

In aller Stille brachen wir auf, und die Tage unseres Marsches verliefen ohne Zwischenfall. Am sechzehnten Tag kamen wir ziemlich nahe an die Stadt heran. Ich befahl einen Halt und verbot das Anzünden von Feuern, bis ich sicher sein konnte, dass man uns nicht entdeckt hatte.
Ich hatte mir angewöhnt, diesen letzten Punkt immer selbst zu überprüfen, und so machte ich mich, ohne auf die Proteste von Patroklos zu achten, der mich manchmal an eine alte Glucke erinnerte, allein auf den Weg.

Nach drei Meilen erklomm ich einen Hügel und sah Lyrnessos unter mir liegen. Die Stadt erstreckte sich über ein weites Stück Land, besaß feste Mauern und eine große Festung. Ich betrachtete sie einige Zeit und verband das, was ich sah, mit dem, was Odysseus' Späher mir berichtet hatten.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und stieg den Abhang ein Stück hinunter, wobei ich mich freute, dass ich mich auf der windabgewandten Seite des Hügels befand, auf der kaum Schnee lag und er Boden noch erstaunlich warm war. Ein Fehler, Achilles! Ich trat fast auf ihn. Geschmeidig rollte er sich beiseite und kam in einer fließenden Bewegung auf die Füße. Blitzschnell rannte er davon, bis er außer Reichweite meines Speeres war, dann blieb er stehen, um mich zu mustern. Er erinnerte mich lebhaft an Diomedes: Diesen Mann umgab dieselbe tödliche Aura, und sowohl aus seiner Kleidung als auch aus seiner Haltung heraus konnte ich schließen, dass er von hohem Stand war. Ich hatte die Liste aller trojanischen und der mit Ihnen verbündeten Heerführer, die Odysseus für uns aufgestellt und durch Boten hatte verteilen lassen, auswendig gelernt und kam zu dem Schluss, dass mein Gegenüber Aeneas war.

„Ich bin Aeneas und unbewaffnet!“ rief er mir zu.
„Zu schade, Dardanier! Ich bin Achilles und bewaffnet!“
Unbeeindruckt hob er die Augenbrauen. „Es gibt wirklich Zeiten im Leben eines vorsichtigen Mannes, da Klugheit der bessere Teil des Mutes ist. Auf Wiedersehen in Lyrnessos!“

Da ich wusste, dass ich schneller zu Fuß war als die meisten, setzte ich ihm in gemäßigtem Tempo nach, um ihn allmählich zu ermüden. Doch er war sehr behände und kannte sich hier aus. Ich hingegen nicht. So folgte ich ihm durch dorniges Gebüsch, und er ließ mich durch Löcher von Fuchs- und Kaninchenbauten stolpern, bis wir schließlich an eine breite Flussfurt kamen, wo er leichten Fußes über verborgene Steine sprang, während ich bei jedem Tritt nach dem nächsten Ausschau halten musste. Also verlor ich ihn, blieb stehen und verfluchte meine eigene Dummheit. Lyrnessos blieb ein ganzer Tag Zeit, um sich auf unseren Angriff vorzubereiten.

Bei Anbruch der Morgenröte brach ich missgestimmt auf. Dreißigtausend Mann strömten in das Tal von Lyrnessos, umschlossen die Stadtmauern wie Sirup. Ein Meer aus Pfeilen und Speeren regnete auf sie herab, aber die Soldaten wehrten sie, wie sie gelernt hatten, mit ihren Schilden ab, und es gab keine Verwundeten. Es drängte sich mir der Eindruck auf, dass sich hinter den Befestigungen nicht viel an Verteidigungskraft verbarg, und ich fragte mich, ob die Dardanier vielleicht ein Volk von Schwächlingen waren. Aber Aeneas hatte nicht wie der Anführer einer degenerierten Sippe ausgesehen.

Die Leitern wurden aufgestellt. An der Spitze der Myrmidonen erreichte ich den schmalen Pfad oben auf der Mauer, ohne dass mich ein Stein oder ein Krug mit kochendem Öl traf. Als eine kleine Gruppe von Verteidigern auftauchte, schlug ich sie mit meiner Axt nieder, ohne auch nur nach Unterstützung rufen zu müssen. Wir kamen mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit voran, und bald wussten wir auch warum. Unsere Gegner waren alte Männer und Knaben.

Aeneas, so fand ich heraus, war am Tag zuvor in die Stadt zurückgekehrt und hatte unverzüglich seine Männer zu den Waffen gerufen. Aber nicht, um gegen mich zu kämpfen. Er hatte sich mit seiner Armee nach Troja abgesetzt.
„Sieht so aus, als hätten die Dardanier einen Odysseus in ihrer Mitte“, sagte ich zu Patroklos und Ajax. „Welch ein Fuchs! Jetzt hat Priamos zwanzigtausend Mann mehr, die von einem Odysseus angeführt werden. Lasst uns hoffen, dass die Vorurteile des alten Mannes (Priamos) ihn blind machen für das, was Aeneas ist und kann.“
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!
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Es bedanken sich: Paganlord , Inara , Violetta , Saxorior , Erato


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RE: Aeneas, der Verteidiger von Troja - von Hernes_Son - 16.03.12018, 12:58

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