Themabewertung:
  • 0 Bewertung(en) - 0 im Durchschnitt
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
Das Lied von Troja
#4
Ich erklärte Thetis mit allen Ehren und aller Pracht in Iolkos zu meiner Königin. Schon in unserem ersten gemeinsamen Jahr wurde sie schwanger und machte damit das Glück unserer Ehe vollkommen. Wir waren nie so glücklich wie in den langen Monaten, in denen wir auf unseren Sohn warteten. Keiner von uns träumte von einem Mädchen.

Meine eigene Amme Aresune wurde zur ersten Hebamme bestellt, sodass ich, als die Wehen bei Thetis begannen, nicht das Geringste mehr zu sagen hatte; das alte Weib setze seine ganze Autorität ein und verbannte mich ans andere Ende des Palastes. Einen vollen Umlauf von Phoibos Triumphwagen saß ich dort allein, ignorierte die Diener, die mir Speis und Trank darboten, und wartete, wartete… Bis Aresune schließlich kann. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die blutbespritzte Geburtsschürze abzunehmen; gebeugt und runzlig stand die Alte da, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Aus ihren tief eingesunkenen Augen rannen Tränen.

„Es war ein Sohn, Herr, aber er lebte nicht lange genug, um atmen zu können. Die Königin ist in Sicherheit. Sie hat Blut verloren und ist sehr müde, aber ihr Leben ist nicht in Gefahr.“ Sie rang die knochigen Hände. „Herr, ich schwöre, ich habe nichts falsch gemacht! So ein großer, schöner Knabe! Aber es ist der Wille der Göttin!“

Ich konnte es nicht ertragen, dass sie mein Gesicht sah. Unfähig zu weinen, wandte ich mich ab und ging davon. Mehrere Tage verstrichen, ehe ich mich aufraffte, Thetis aufzusuchen. Als ich schließlich ihr Zimmer betrat, entdeckte ich voller Erstaunen, dass sie aufrecht in ihrem großen Bett saß und gesund und glücklich aussah. Sie sagte kein unpassendes Wort, gab auch ihrem Kummer Ausdruck, aber nichts davon meinte sie wirklich. Thetis war erfreut!

„Unser Sohn ist tot, Weib! Platzte ich heraus. „Wie kannst du das so leicht hinnehmen? Nie wird er wissen, was es heißt zu leben! Nie wird er auf meinem Thron sitzen. Neun Monate hast du ihn getragen – vergeblich!!
Sie streckte die Hand aus und tätschelte fürsorglich die meine. „Oh, liebster Peleus, gräme dich nicht! Unser Sohn hat kein sterbliches Leben, hast du denn vergessen, dass ich eine Göttin bin? Weil er keine irdische Luft geatmet hat, habe ich meinen Vater gebeten, ihm das ewige Leben zu gewähren, und das hat er nur zu gern getan. Unser Sohn lebt jetzt auf dem Olymp – er isst und trinkt mit den anderen Göttern, Peleus! Nein, er wird nie in Iolkos herrschen, aber ihm ist vergönnt, was keinem Sterblichen vergönnt ist. Indem er gestorben ist, wird er niemals sterben.“

Mein Erstaunen wandelte sich in Abscheu; ich starrte sie an und fragte mich, wie dieser G*tteswahn jemals eine solche Macht über sie gewinnen konnte. Sie war sterblich wie ich und ihr Kind so sterblich wie wir beide. Dann bemerkte ich, wie vertrauensvoll sie mich anblickte, und brachte es nicht übers Hers, ihr zu sagen, was mir auf der Zunge lag. Wenn der Glaube an diesen Unsinn ihren Schmerz über den Verlust milderte, sollte es mir recht sein. Das Leben mit Thetis hatte mich gelehrt, dass sie nicht wie andere Frauen dachte und handelte. Ich strich ihr übers Haar und verließ sie.

Sechs Söhne gebar sie mir im Laufe der Jahre, und alle kamen tot zur Welt. Als Aresune mir den Tod meines zweiten Sohnes mitteilte, wurde ich fast verrückt und wich Thetis viele Monate aus, denn ich wusste, was sie mir sagen würde – das unser Sohn ein G*tt sei. Aber schließlich brachten Liebe und Gier mich immer wieder zurück zu ihr, und wir durchlebten den schrecklichen Kreislauf von neuem.
Als das sechste Kind tot zur Welt kam – wie konnte es nur tot sein, da es doch die volle Zeit ausgetragen worden war und nun, trotz seiner dunkelblauen Haut, so kräftig aussah in seinem kleinen Begräbniswagen? -, gelobte ich, dem Olymp keine Söhne mehr zu schenken. Ich ließ die Pythia in Delphi befragen und bekam zur Antwort, dass es Poseidon war, der mir zürnte, weil er mir den Raub seiner Priesterin nachtrug. Was für eine Scheinheiligkeit! Was für ein Wahnsinn! Erst mochte er sie nicht haben, dann wieder doch. Ein Mensch kann wirklich nicht begreifen, was die Götter nun eigentlich wollen, seien es die alten oder die neuen.
Zwei Jahre wohnte ich Thetis nicht bei, obwohl sie darum bettelte, weitere Söhne für den Olymp zu empfangen. Dann, am Ende des zweiten Jahres, nahm ich ein weißes Fohlen und opferte es Poseidon, der auch der G*tt der Pferde ist, in aller Öffentlichkeit, vor meinem Volk der Myrmidonen.
„Hebe deinen Fluch auf und segne mich mit einem lebenden Sohn“, rief ich.
Aus dem Erdinnern drang ein Grollen, die heilige Schlange schoss wie ein brauner Blitz unter ihrem Altar hervor, der Boden wankte und hob sich. Eine Säule brach neben mir auseinander, doch ich rührte mich nicht. Auch als sich ein Riss zwischen meinen Füßen auftat und ekliger Schwefelgeruch hervordrang, blieb ich stehen, bis das Beben nachließ und die Öffnung sich wieder schloss. Das weiße Fohlen lag ausgeblutet und mitleiderregend still auf dem Altar.
Drei Monde später erfuhr ich von Thetis, dass sie mit unserem siebten Kind schwanger war.

In der darauf folgenden, mühseligen Zeit sorgte ich dafür, dass man besser auf sie Acht gab als eine Henne ihr Küken hütet. Aresune musste jede Nacht in ihrem Bett schlafen, ich drohte den Frauen des Hauses unaussprechliche Foltern an, sollten sie Thetis auch nur eine Augenblick allein lassen, wenn Aresune nicht da war. Thetis ertrug diese „Grillen“, wie sie es nannte, mit Geduld und guter Laune; sie stritt nicht und widersetzte sich keiner meiner Anordnungen. Einmal schaffte sie es allerdings, das mir die Haare zu Berge standen und Schauer über meine Haut liefen, als sie anhub, eine seltsame, klanglose Weise zu singen, die aus der Alten Religion stammte. Aber als ich ihr befahl aufzuhören, gehorchte sie und stimmte sie nie wieder an. Allmählich rückte ihre Zeit heran. Ich begann zu hoffen. Ganz gewiss hatte ich immer in gerechter Furcht vor den Göttern gelebt! Ganz gewiss waren sie mir einen lebendigen Sohn schuldig!

Ich besaß eine Rüstung, die einst Minos gehörte hatte; sie zählte zu meinen größten Schätzen. Das herrliche Stück hatte über vier Bronze- und weiteren drei Zinnsschichten eine Goldhaut, die Einlagen aus Lapislazuli und Bernstein, Korallen und Kristallen formten ein großartiges Muster. Der ähnlich gefertigte Schild war mannshoch und sah aus, als hätte man zwei runde Schilde übereinandergesetzt, sodass er in der Mitte eine Art Taille besaß. Harnisch und Beinschienen, Helm, Rock und Armschutz waren für einen größeren Mann als mich gemacht, und ich bewunderte den toten Minos noch im Nachhinein, der mit dieser Rüstung in seinem kretischen Königreich herumspaziert und fest davon überzeugt war, dass er sich nie damit schützen müssen, sondern sie nur vorzeigte, um zu demonstrieren, wie reich er war. Doch als er fiel, hatte sie ihm nichts genutzt, denn Poseidon packte ihn mitsamt seinem Reich und zertrümmerte es, weil er sich nicht der Neuen Religion anschließen wollte. Mutter Kubaba, die große Göttin, der Alten Religion und allmächtige Königin der Erde, hatte immer über Kreta und Thera geherrscht.
Zu der Rüstung des Minos hatte ich einen Speer aus Eschenholz gestellt, das von den Hängen des Berges Pelion stammt; seine kleine Spitze bestand aus einem Metall, das Eisen genannt wurde und so selten und kostbar war, dass die meisten es für eine Legende hielten, denn kaum einer hatte es je gesehen. Versuche hatten gezeigt, dass der Speer, der leicht wie eine Feder in meiner Hand lag, unfehlbar zu seinem Ziel flog. Als ich ihn nicht mehr für meine Feldzüge benötigte, legte ich ihn zu der Rüstung. Der Speer hatte einen Namen: Alt-Pelion.
Vor der Geburt meines ersten Sohnes hatte ich diese Kostbarkeit wieder hervorgeholt, um sie zu reinigen und zu polieren; sicher würde mein Sohn zu einem so stattlichen Mann heranwachsen, dass er sie tragen konnte. Aber als meine Söhne einer nach dem anderen tot zu Welt kamen, hatte ich die Rüstung zurück in die Schatzkammer bringen lassen, wo sie in einr Düsternis lagen, die kaum weniger tief als meine Verzweiflung war.

Etwa fünf Tage, bevor Thetis mit unserem siebten Kind niederkommen sollte, nahm ich eine Lampe und stieg damit die ausgetreten Steinstufen hinab, die in die unteren Räume des Palastes führten. Ich schritt durch etliche Gänge, bis ich an die große Holztür kam, die unsere Schatzkammer versperrt. Was wollte ich hier? fragte ich mich, ohne mir eine befriedigende Antwort geben zu können. Ich öffnete die Tür, um einen Blick in das Halbdunkel zu werfen – und erblickte stattdessen am anderen Ende des riesigen Gewölbes einen golden leuchtenden Lichtfleck. Ich löschte meine Lampe, und mit der Hand am Dolch schlich ich vorwärts. Der Boden war bedeckt mit Krügen und Kisten, Truhen und abgestellten Devotionalien; ich musste mir vorsichtig den Weg bahnen.
Als ich näher kam hörte ich das unverwechselbare Geräusch einer weinenden Frau. Meine Amme Aresune saß auf dem Boden und wiegte in ihren Armen den Goldhelm, der einst Minos gehört hatte; seine zarten Federn flossen über ihre runzligen Hände. Sie schluchzte leise, aber bitterlich, und in ihr Jammern mischte sich das Klagelied von Aigina, der Insel, von der sie und ich ursprünglich kamen und die zum Königreich des Aiakos gehörte. O Kore!
Aresune beweinte bereits meinen siebten Sohn.
Ich konnte sie nicht ungetröstet lassen, konnte nicht wieder davonschleichen und so tun, als hätte ich sie nicht bemerkt. Als meine Mutter ihr befohlen hatte, mir die Brust zu geben, war sie schon eine reife Frau gewesen; sie hatte mich unter den desinteressierten Blicken meiner Mutter aufgezogen; sie war mit mir, treu wie ein Hund, durch ein dutzend Länder gezogen, und als ich Thessalien erobert hatte, bekam sie eine hohe Stellung in meinem Haushalt. Also trat ich näher, berührte sanft ihre Schulter und bat sei , nicht mehr zu weinen. Ich nahm ihr den Helm ab, zog ihren steifen, alten Körper an mich und sagte viele dumme Dinge, um sie trotz meines eigenen Kummers zu trösten. Schließlich verstummte sie, um mit ihren knochigen Fingern an meine Hemd zu zupfen. „Mein Herr, warum?“, krächzte sie.“ Warum lässt du sie das tun?“
„Wieso? Was tun? Wen meinst Du?“
„Die Königin“, antwortete sie schluchzend.
Hinterher wurde mir bewusst, dass ihr Gram sie so aus der Fassung gebracht hatte; sonst hätte ich ihr das Geheimnis nie entlocken können. Obwohl sie mir weitaus lieber war, als meine Mutter es jemals gewesen war, hatte sie nie den Unterschied unserer Herkunft vergessen.
Ich packte sie so hart, dass sie sich wand und wimmerte.
„Was ist mit der Königin? Was tut sie?
„Ermordet Eure Söhne.“


wird fortgesetzt ...
Im A & O das Geheimnis liegt - Omega siegt!
Zitieren
Es bedanken sich:


Nachrichten in diesem Thema
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 21.11.12007, 00:20
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 21.11.12007, 00:28
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 22.11.12007, 00:42
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 23.11.12007, 21:47
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 25.11.12007, 00:56
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 02.12.12007, 14:12
[Kein Betreff] - von Hernes_Son - 04.12.12007, 21:28
Re: Das Lied von Troja - von Vendetta - 30.12.12008, 21:36

Gehe zu:


Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste

Termine

Nächster Vollmond ist in 26 Tagen und 11 Stunden am 23.05.12024, 15:54
Letzter Vollmond war vor 3 Tagen und 2 Stunden
Nächster Neumond ist in 11 Tagen und 1 Stunde am 08.05.12024, 05:23
Letzter Neumond war vor 18 Tagen und 7 Stunden