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Tyr – die ewige Gerechtigkeit
#18
Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug immer hübsche Kleider und ein fesches rotes Hütchen auf dem Kopf, welches unter seinem Kinn mit einer großen Schleife festgebunden war, und deswegen nannte man es überall nur das Rotkäppchen.

Das Rotkäppchen wohnte in einem schönen Haus in einem gar liebreizenden Dorf. Alle Bewohner dieses Dorfes waren einander zugetan und standen füreinander ein, in guten wie in schlechten Zeiten.
Direkt hinter dem Dorf begann der Wald; es war ein schöner bunter Wald mit vielerlei unterschiedlichen Bäumen und Sträuchern und anderen Pflanzen, und an seinen Füßen wuchsen viele eßbare Pilze.

Und ein ganzes Stück in den Wald hinein stand ein wunderschönes Schloß, und dort wohnte der König, dem die Leute aus dem Dorf dienten. Er war nicht jung und nicht alt, der König, er war einfach der König, und er war weise und gerecht, und die Leute aus dem Dorf verehrten ihn und respektierten seine Anordnungen, und niemals wäre einer auf die Idee gekommen, dem König zu widersprechen oder sich seinen Anordnungen zu widersetzen, denn sie wußten, daß er von großer Weisheit war und ihnen niemals unrecht tun würde.

So lebten sie in dem Dorf und bestellten ihre Felder und feierten ihre Feste, und ein ums andere Jahr ging es ihnen gut. Manche Jahre waren besser und andere schlechter, aber indem sie loyal zusammenstanden und füreinander da waren, so erging niemals einem von ihnen richtig schlecht.

Bis dann eines Tages etwas furchtbares geschah; es kam ein häßlicher, alter, böser König aus einem fremden Land, und der nahm das Schloß in einem Sturmstreich ein, überrumpelte den König und sperrte ihn in seinem eigenen Schloß bei Wasser und Brot in den Kerker. Den Leuten aus dem Dorf verkündete er, daß ER nun ihr Herrscher wäre, und sie müßten ihm genauso gehorsam sein wie bisher dem vorherigen König.

Das gefiel ihnen allen gar nicht; ihr bisheriger König war ein guter König gewesen und hatte ihnen stets Recht und Gerechtigkeit angedeihen lassen, und so berieten sie, was sie tun könnten.

Zunächst beschlossen sie, ihrem eingesperrten König jeden Tag Essen und Trinken zu bringen, auf daß er im Kerker bei Wasser und Brot nicht seine Kräfte verlöre, bis ihnen etwas eingefallen sein möge. Und so zogen die Kinder des Dorfes einen um den anderen Tag in den Wald hinein, meist in Grüppchen, und trugen Körbe mit den Früchten des Feldes und Flaschen mit Wasser und Saft zum Kerker, um es ihrem wahren König zu bringen.

Ein paar Wochen ging dies so, und alle fanden es gut und richtig, aber sodann fingen die ersten an zu maulen und sprachen: „Er ist nicht mehr für uns tätig, und er sorgt nicht mehr für uns, der König, warum sollen wir unsere knappen Vorräte mit ihm teilen? Der Winter steht vor der Tür, und wir werden selbst nicht genug haben, wenn wir ihm jeden Tag etwas in den Kerker bringen.“ Zudem  hatten sie Angst um ihre Kinder, denn der Wald, der einstmals so wunderschön grün-golden in der Sonne geleuchtet hatte, war in der kurzen Zeit, da der neue König ihn und das Dorf beherrschte, dunkel und finster geworden. Ganz düster ging es auf dem Weg zum Schloß zu, und den Kindern war es schon manches Mal ordentlich bange gewesen auf ihrem täglichen Gang.

Und so hörten einzelne Familien auf, ihre Vorräte zu teilen und ihre Kinder zum König im Kerker zu schicken. Andere waren bereit, weiterhin zu teilen, wollten aber ihre Kinder nicht mehr allein durch den Wald gehen lassen. Aber nicht nur über diesen Punkt wurden die Dorfbewohner sich uneinig, nein, sie, die bisher so eine festverbundene Gemeinschaft gewesen waren, fingen an, sich über vielerlei andere Dinge zu streiten, der eine sagte dies, der andere das, ein dritter mischte sich ein, bis sie sich immer weiter voneinander entfernten und immer mehr entzweiten. Nur ein paar wenige Familien, zu denen auch die des Rotkäppchens gehörten, erkannten, daß sie nur bestehen könnten, wenn sie fest zusammenhalten und ihren König weiter versorgen, denn sie glaubten fest daran, daß er eines Tages befreit werden würde und dann wieder alles gut wäre im Dorf. Und so lieferten jene, die den König weiter unterstützen wollten, jeden Tag ihren Anteil im Haus des Rotkäppchens ab, denn dieses machte als einziges tapfer weiterhin jeden Tag seinen Gang und brachte dem eingesperrten König in einem Korb Essen und Trinken.

Das ging so drei Monate, dann erkannte der König, was für ein mutiges Kind das Rotkäppchen war, und er wußte, daß sie die richtige sein würde, um für seine Befreiung zu sorgen. Und so bat er sie, noch viel tiefer in den Wald hinein zu gehen, bis dorthin, wo die Wölfe wohnen, und sie zu bitten, zu seiner Befreiung zu kommen.

Das Rotkäppchen mußte ordentlich schlucken. Weiter als bis zu dem Schloß war es noch nie in den Wald hinein gegangen, auch nicht in den guten Zeiten, als er noch so wunderschön grün-golden in der Sonne geleuchtet hatte. Aber nun, wo er ganz dunkel und finster und düster geworden war, so war ihm ordentlich bang ums Herz.

Aber sie war eben auch ein sehr tapferes Kind, und sie wußte, daß man Versprechen halten mußte, und wie alle Dorfbewohner hatte auch sie, als sie alt genug war, dem König versprochen, ihm fest zur Seite zu stehen und stets Gehorsam und Loyalität walten zu lassen, so wie der König den Dorfbewohnern versprochen hatte, stets Recht und Gerechtigkeit zu sprechen.

Also machte es sich am nächsten Morgen wie jeden Tag auf den Weg, aber diesmal hatte es nicht nur den Korb mit dem Essen für den König dabei, sondern auch noch ein Ränzlein auf dem Rücken mit etwas zu essen und einer Flasche Saft für unterwegs, denn der Weg zu den Wölfen würde sehr lang sein, und es könnte nicht am gleichen Abend zurück nach Hause kommen.

Der König sah ihm durch die Gitterstäbe des Kerkers lange nach, wie es da mit seinem roten Hütchen immer tiefer in dem dunklen und düsteren Wald verschwand. Viele Stunden lief das Rotkäppchen, und es war schon lange dunkel, als es endlich die Stelle erreichte, an der die Wölfe lebten. Huh, wie die heulten, und ihre Augen leuchteten gelblich in der finsteren Nacht. Aber das tapfere Rotkäppchen bekämpfte seine Ängste und rief nach den Wölfen, um ihnen zu erklären, daß sie den König befreien müßten.

Der oberste Wolf knurrte und murrte und fragte: „Woher wissen wir, daß deine Geschichte stimmt? Wer sagt uns, daß das kein Trick ist, um uns in die Nähe des Dorfes zu locken, wo die Einwohner uns dann mit ihren Mistgabeln aufspießen?“

Das Rotkäppchen schlotterte inwendig vor Angst, denn der Wolf war zweimal so groß wie es selbst, und seine Augen glühten bedrohlich in der dunklen Nacht, und seine großen weißen Zähne blitzten im Mondlicht, als er sprach. Aber tapfer hob es sein Antlitz und blickte dem Wolf direkt in die Augen und sprach: „Ich habe dem König Treue versprochen. Jeden Tag bin ich mit einem Korb voll Essen zum Kerker gegangen, während er einen Plan zu seiner Befreiung ersonnen hat. Ganz allein bin ich durch den dunklen und finsteren Wald gelaufen, um euch zu finden. Ich gebe euch mein Wort, daß die Geschichte wahr ist und euch von den Leuten aus dem Dorf kein Leid geschehen wird. Im Gegenteil, froh und dankbar werden sie sein und euch von Herzen willkommen heißen!“

Der Wolf war beeindruckt von dem aufrechten Blick des kleinen Mädchens und seiner klaren Worte. Er schaute ihm tief in die Augen und fand kein Falsch darin. „Gut“, sprach er, „wir werden kommen und den König befreien und danach gemeinsam mit den Dorfbewohnern, welche bisher unsere Feinde waren, feiern!“

Und so kam es. Die Wölfe eilten im Galopp zum Schloß, das Rotkäppchen ließen sie dabei abwechselnd auf sich reiten, weil es nie und nimmer auch nur annähernd so schnell hätte laufen können wie die Wölfe.

Und dann ging alles blitzschnell; die Wölfe drangen in das Schloß ein und zerrissen den finsteren, bösen, häßlichen, eingedrungenen alten König in 1000 Stücke, die sie in alle Winde zerstreuten, und befreiten den wahren König aus dem Kerker.

Da war der Jubel im Dorf groß; auch diejenigen, die sich zwischenzeitlich von ihm abgewandt hatten, stimmten mit ein, da sie annahmen, es würde wieder alles wie früher sein. Der König sprach jedoch: „Alle, die mir die Treue gebrochen haben, müssen das Dorf verlassen. Sie sollen mitnehmen, was sie tragen können, aber sie müssen ihre Häuser und ihre Äcker zurücklassen und dürfen nie wieder zurückkehren. Meine treuen Gefolgsleute jedoch will ich mit Gold und Silber überschütten.“

Das gab ein Heulen und Wehklagen; auch unter denen, die bleiben durften, fand sich manch trauriges Auge, da man einen Freund, einen Nachbarn oder sogar einen Verwandten verlieren würde. Aber die Krise hatte sie gespalten, und nun war die Kluft zu groß, als daß es nochmal eine Verbindung hätte geben können. Und sie verstanden, daß die Gemeinschaft nur stark sein könnte, wenn alle zusammenhalten, und daß ein paar Abtrünnige oder Ungehorsame nicht nur sich selbst, sondern das ganze Dorf mit Schaden überziehen könnten. Und so ließen sie sie ziehen und blickten ihnen ohne Wehmut nach, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. 

Der weise und gerechte König aber herrscht bis heute, und der Wolf steht stets fest an seiner Seite.
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Es bedanken sich: Cnejna , Inara , Heimdall , Eiche , Rahanas , Aglaia , Violetta


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Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Paganlord - 09.09.12020, 11:34
RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Fulvia - 09.09.12020, 13:24
RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Dancred - 09.09.12020, 14:55
RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Anuscha - 09.09.12020, 15:10
RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Erato - 09.09.12020, 20:08
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RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Dancred - 10.09.12020, 06:05
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RE: Tyr – die ewige Gerechtigkeit - von Slaskia - 02.03.12021, 12:39

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